In sonniger Herrgottsfrühe

Eine Pfingstgeschichte von Teo von Torn.
in: „Rostocker Anzeiger” vom 15.06.1901


Die Buchhandlung von Michelsen Wittwe war geschlossen. Herr Emmerich Grüdelfink hatte die Journal-Continuationen auszuschreiben, welche in dem Leipziger Ballen vor einer Stunde eingetroffen waren.

Dabei konnte er die ewigen Störungen des sonnabendlichen Kleinbetriebes nicht gebrauchen. „For zwei Fennje Griffel” — „'n Scheenschreibeheft mit doppelte Linjen, und 'n Bild zu.” Womöglich kam dann auch noch das alte Fräulein von Bosson, um ihr Bibliotheksbuch umzutauschen. Das erforderte mindestens eine Stunde, da sie von jedem der ihr vorgelegten Bände eine genaue Inhaltsangabe und außerdem von Herrn Emmerich Grüdelfink die Versicherung auf „Cavaliersparole” verlangte, daß auch ja nichts Unanständiges darin sei. Als ob die Firma Michelsen Wittwe überhaupt den modernen Schund führte!

Und noch aus einem anderen Grunde hatte der Gehülfe Schlag Acht die zwei schweren Eisenkrampen vor die Thürladen gehängt.

Es war ihm zu laut da draußen. Die Menschen wohnten ja rein auf der Straße. Rechts und links und drüben saßen sie auf den Bänken und Oleanderkübeln, und lachten und schwatzten in den lauen Abend hinein, daß es einen ernsten Menschen, wie Herr Emmerich Grüdelfink einer war, zu nervöser Verzweiflung bringen konnte.

Jetzt klang das Alles nur abgedämpft in den engen Raum — als wenn die Welt ein ganz Stück weiter weggerückt wäre von der Buchhandlung Michelsen Wittwe. Der helle Abend stahl sich nur noch schüchtern durch das kleine, mit Büchern und Placaten verbaute Schaufenster in die muffige Dämmerung des Ladens.

Bei diesem spärlichen Licht machte er sich an die Arbeit. Die „Modenwelt”, das „Buch für Alle”, „Dies Blatt gehört der Hausfrau” etc. — Alles wurde ausgepackt und auf jedem Exemplar der Name des Abonnenten vermerkt, mit Wohl- oder Hochwohlgeboren dahinter — je nachdem. Es waren lauter solide Blätter, sozusagen reines Quellwasser für das deutsche Haus. Die „Moderne Kunst” war das Höchste; darübr hinaus gab es nichts. Wenn Herr Grüdelfink die Brille auf die Stirn schob und sein blaurasirtes Schauspielergesicht mit den tiefen Linien um Mund und Nase ein Mal in das Blatt steckte, dann hatte er sich erst durch das kleine, mit Mull verkleidete Fensterchen in das Privatcomptoir gesichert, ob Fräulein Ingeborg Michelsen auch fest saß auf ihrem Drehschemel.

Diesmal sollte er beinahe abgefaßt werden. Eben beschaute er den „Frühling” und machte sich Gedanken darüber, wie der Frühling, der doch entschieden masculini generis war, hier als ein stark decolletirtes Femininum dargestellt werden konnte — — da huschte Fräulein Ingeborg in ihrer lautlosen Geschäftigkeit in den Laden.

Rasch schob er das Journal unter den Haufen anderer und erhob sich verlegen.

Die kleine Dame schien aber in der zunehmenden Dämmerung nichts bemerkt zu haben. Mit einer raschen geübten Bewegung strich sie die Pincenezschnur hinter das Ohr, stützte die dünnen weißen Händchen — in der Rechten hielt sie noch den Federhalter — auf den Ladentisch und neigte den glattgescheitelten Kopf auf die hohe Schulter. Sie war etwas verwachsen.

„Haben Sie schon daran gedacht, Herr Grüdelfink, was wir morgen machen, wenn Fritz nicht kommt? Die Leute wollen doch zum Fest ihre Journale haben — —”

„Allerdings, aber ich weiß keinen Rath es sei denn, daß ich selbst —”

„Aber das geht doch nicht!” wehrte sie fast entrüstet ab, indem sie beide Schultern hob. „Vielleicht würden Sie heute Abend einmal in seiner Wohnung vorsprechen —”

Emmerich Grüdelfink glättete verlegen die vor ihm liegenden Hefte und Papiere. Dann sagte er langsam:

„Sehr gern, Fräulein Michelsen — ich fürchte nur, daß es keinen Zweck haben wird — — krank ist er nämlich ganz bestimmt nicht —”

„O — was!”

„Nein, und zu Hause auch nicht.”

„Aber, Herr Grüdelfink — das ist doch unerhört! Und dergleichen erfahre ich so nebenbei — ”

Fräulein Michelsen umschwebte stets ein feiner Lavendelduft, und wenn sie zornig war, wurde er intensiver. In diesem Moment war er recht stark, und der Gehülfe hielt es trotz seiner, durch eine fast zwanzigjährige Thätigkeit bedingte Ausnahmestellung für angebracht, nun mit der Sprache herauszurücken. Schließlich verdiente es der gewissenlose junge Mensch nicht besser.

„Ich wollte Sie nur nicht ärgern Fräulein Michelsen, daher behielt ich es für mich — in der Hoffnung — — aber er scheint es wahr zu machen. Als ich dem jungen Mann gestern den Pfingsturlaub abschlug, erklärte er, daß er sich das nicht gefallen lassen würde. Er wollte einmal einen ganz freien Tag haben — ob die Leute ihre Blätter kriegten, das wäre ihm Wurst — jawohl, er hat ausdrücklich „Wurst” gesagt, Fräulein Michelsen. Er sagte ferner, wir hätten Frühling — nur als ich ihm erklärte, daß der Frühling das Geschäft garnichts anginge, da meinte er — — wir — — —”

„Nun —?” Es roch sehr stark nach Lavendel.

„Wir — ich — — natürlich meinte er mich nur! — Wir wären versauerte Leute — und — — wenn wir in dem Muff hier umkommen wollten, dann hätte er nichts dagegen. Er aber müsse mal raus — weil es Frühling ist und Pfingsten! Bei dem Worte „Pfingsten” hat er ordentlich gejucht, Fräulein Michelsen, — so ganz laut und frech; ich kann's Ihnen garnicht sagen, wie! Da er nicht frei bekäme — erklärte er schließlich — werde er ganz bestimmt krank werden. Und wir — wir wären Schuld daran.”

Es war einen Augenblick still, dann fragte die kleine Dame:

„Und Sie meinen nicht, daß dieser Bursche wirklich krank ist — —?”

„Kaum. Ich habe nämlich auch einen Brief gefunden — in der Postmappe, aus dem hervorgeht — — aber ich weiß nicht, ob ich das sagen darf, Fräulein Michelsen —”

„Bitte —!!”

„Daß er morgen, in der Pfingstfrühe auf der Lindenhöhe — — es ist dort ein Frühconcert, wenn ich nicht irre — —”

„Bitte — —!!”

„Nun ja — daß er dort ein — — Rendezvous hat!”

Fräulein Ingeborg Michelsen prallte zurück und stieß einen leisen Schrei aus. Dann flüchtete sie in ihr Comptoir, als wenn man ihr selbst so ein — — oooooh — angeboten hätte.

Herr Grüdelfink schob die Lippen auf und rieb sich verlegen das Kinn. Das hätte er doch wohl nicht sagen dürfen — — das mit dem — —

Schließlich gab er sich einen Ruck und legte die letzte Hand an die Continuation. Als er dann ging, fiel es ihm zwar auf, daß Fräulein Ingeborg immer noch im Dunkeln saß und auf seinen Gruß nur einen kurzen glucksenden Laut hatte, aber er machte sich weiter keine Gedanken darüber — es wollte ihm nicht aus dem Kopfe, daß die Kundschaft morgen keine Journale haben sollte — — und noch dazu am Pfingstfest!

— — — — —

Wenn Jemand Herrn Emmerich Grüdelfink gefragt hätte, wie er eigentlich dazu gekommen war, am Pfingstmorgen auf die Lindenhöhe zu steigen, dann hätte er wahrscheinlich die schmalen Lippen aufgeschoben und sich das Kinn gerieben. Das that er immer, wenn er verlegen war.

Ursprünglich hatte ihm wohl vorgeschwebt, dem pflichtvergessenen Laufier, der schon mit zwanzig Jahren ein Rendezvous hatte, als rächende Nemesis entgegenzutreten.

Aber das hatte sich so vollständig verloren, daß er gar nicht mehr daran dachte. Ihm war so seltsam — so taumelfrisch in dieser sonnigen Herrgottsfrühe. Die festlichen Menschen — die Musik, und das Blühen und Duften ringsumher — — und dieser blaue lachende Himmel — und Alles!

Bei Gott — ihm war, als müßte er „Pfingsten!” juchen, so ganz laut und frech, wie der Bengel — der da übrigens eben die Anhöhe heraufschlenderte mit einem grünen Zweig am Hut und einem frischen jungen Mädchen am Arm — einem wirklichen Mädchen — —

Nicht Zorn, nein, — ein großen Staunen und Fragen überkam den alten „jungen Mann”. Er schlich bei Seite. Drüben stand eine einsame Laube — da wollte er sich hinsetzen und nachdenken, wie er sechsundvierzig Jahre alt werden konnte, ohne daß er einen grünen Zweig am Hute gehabt und — — — —

Und im nächsten Moment rieb er fürchterlich sein Kinn.

Aus der Laube nickte ihm Fräulein Ingeborg Michelsen entgegen — sein Chef — die Inhaberin der Firma „Michelsen Wittwe”.

Das feine Köpfchen saß schier noch tiefer zwischen den Schultern als sonst. Aber die durchsichtig bleichen Wangen schimmerten wie rosig heute — und auch aus ihren Augen leuchtete Etwas von dem Sonnensegen des Pentekoste — —

Sie saßen da lange zusammen.

Und als sie heimgingen, hatte Emmerich Grüdelfink ein grünes Reis am Hut und ein Mädchen am Arm.

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